Phaedrus 4,5

Latein

Poeta

(1) Plus esse in uno saepe quam in turba boni
narratione posteris tradam breui.
(2) Quidam decedens tres reliquit filias,
unam formosam et oculis uenantem uiros,
at alteram lanificam et frugi rusticam,
deuotam uino tertiam et turpissimam.
(3) Harum autem matrem fecit heredem senex
sub condicione, totam ut fortunam tribus
aequaliter distribuat, sed tali modo:
(4) "Ni data possideant aut fruantur"; tum "simul
habere res desierint quas acceperint,
centena matri conferant sestertia."
(5) Athenas rumor implet, mater sedula
iuris peritos consulit; nemo expedit
quo pacto ni possideant quod fuerit datum,
fructumue capiant; deinde quae tulerint nihil
quanam ratione conferant pecuniam.

(6) Postquam consumpta est temporis longi mora,
nec testamenti potuit sensus colligi,
fidem aduocauit iure neglecto parens.
(7) Seponit moechae uestem, mundum muliebrem,
lauationem argenteam, eunuchos glabros;
lanificae agellos, pecora, uillam, operarios,
boues, iumenta et instrumentum rusticum;
potrici plenam antiquis apothecam cadis,
domum politam et delicatos hortulos.
(8) Sic destinata dare cum uellet singulis
et adprobaret populus, qui illas nouerat,
Aesopus media subito in turba constitit:
(9) "O si maneret condito sensus patri,
quam grauiter ferret quod uoluntatem suam
interpretari non potuissent Attici!"
(10) Rogatus deinde soluit errorem omnium:
"Domum et ornamenta cum uenustis hortulis
et uina uetera date lanificae rusticae;
uestem, uniones, pedisequos et cetera
illi adsignate uitam quae luxu trahit;
agros et uillam et pecora cum pastoribus
donate moechae.

(11) Nulla poterit perpeti
ut moribus quid teneat alienum suis.
(12) Deformis cultum uendet ut uinum paret;
agros abiciet moecha ut ornatum paret;
at illa gaudens pecore et lanae dedita
quacumque summa tradet luxuriam domus.
(13) Sic nulla possidebit quod fuerit datum,
et dictam matri conferent pecuniam
ex pretio rerum quas uendiderint singulae."
(14) Ita quod multorum fugit inprudentiam
unius hominis repperit sollertia.

Deutsch

Der Dichter 
(1) Dass häufig von einem mehr abhängt als von der Masse, werde ich mit dieser kurzen Erzählung der Nachwelt zeigen.
(2) Ein Mann starb und ließ 3 Töchter zurück, eine hübsch und mit ihren Augen Männer jagend, die zweite Wolle spinnend, schlicht und eine Bäuerin, die dritte dem Wein hingegeben und sehr hässlich.
(3) Aber die greise Mutter von diesen verwaltete das Erbe unter der Bedingung, dass sie das ganze Hab und Gut den dreien gleichmäßig zuteilt, aber auf solche Art und Weise:
(4) "Das Gegebene sollen sie weder besitzen noch genießen“; ferner, "sobald sie das Vermögen nicht mehr haben, das sie bekommen haben, sollten sie der Mutter je hundert Sesterzen geben."
(5) In Athen verbreitet sich das Gerücht; die eifrige Mutter suchte bei den Rechtsgelehrten Rat; niemand fand heraus, auf welche Weise sie das, was gegeben worden ist, weder besitzen noch genießen sollen, ferner, auf Welche Weise sie Geld darbringen sollen, die nichts erhalten haben.
(6) Nachdem auch eine lange Zeitspanne vorüber war und der Sinn des Testaments nicht hergeleitet werden konnte, ließ die Mutter das Recht außer Acht und gebrauchte ihre Gewissenhaftigkeit.
(7) Für die Dirne bestimmte sie Kleidung, femininen Schmuck, ein silbernes Bad, Eunuchen und Lustknaben; für die Spinnerin kleine Äcker, Schafe, das Landhaus, Arbeiter, Rinder, Lasttiere und landwirtschaftliches Gerät; für die Trinkerin ein Lager, voll mit alten Weinkrügen, ein elegant eingerichtetes Haus und gepflegte Gärten. (8) Als sie infolgedessen jeder einzelnen das Zugeschriebene geben wollte und Leute zustimmten, welche jene kannten, stellte sich Äsop plötzlich mitten in die Menge uns sagte:
(9) "O wenn der Geist des begrabenen Vaters anwesend wäre, wie schwer ertrüge er es, dass die Athener seinen Willen nicht verstehen konnten!"
(10) Danach gefragt, löste er den Irrtum aller: „Gebt das Haus, die Schmuckstücke mitsamt den lieblichen Gärten und den alten Wein der Wolle spinnenden Bäuerin; die Kleidung, die Perlen, die Diener und das andere teilt jener zu, die ihr Leben in Ausschweifungen verbringt; die Äcker, das Landhaus, die Herden mitsamt den Hirten gebt der Dirne.
(11) Keine könnte lange ertragen, was den eigenen Sitten fremd ist.
(12) Die Hässliche wird ihren Schmuck verkaufen, um Wein zu erwerben; die Dirne wird ihre Äcker aufgeben, um Schmuck zu erwerben; aber jene, die sich über Vieh freut und der Wolle ergeben ist, wird für jede Summe Luxus und Haus preisgeben.
(13) So wird keine besitzen, was ihr gegeben worden ist, und sie werden das vereinbarte Geld aus dem Wert der Dinge, welche jede einzelne verkaufen wird, der Mutter zahlen."
(14) So hat die Einsicht eines einzigen Mannes gefunden, was der Unwissenheit vieler entging.