Phaedrus 3,10

Latein

Poeta de Credere et non Credere

(1) Periculosum est credere et non credere.
(2) Vtriusque exemplum breuiter adponam rei.
(3) Hippolytus obiit, quia nouercae creditum est;
Cassandrae quia non creditum, ruit Ilium (Troja).
(4) Ergo exploranda est ueritas multum, prius
quam stulte praua iudicet sententia.
(5) Sed, fabulosam ne uetustatem eleuem,
narrabo tibi memoria quod factum est mea.
(6) Maritus quidam cum diligeret coniugem,
togamque puram iam pararet filio,
seductus in secretum a liberto est suo,
sperante heredem suffici se proximum.
(7) Qui, cum de puero multa mentitus foret
et plura de flagitiis castae mulieris,
adiecit, id quod sentiebat maxime
doliturum amanti, uentitare adulterum
stuproque turpi pollui famam domus.
(8) Incensus ille falso uxoris crimine
simulauit iter ad uillam, clamque in oppido
subsedit; deinde noctu subito ianuam
intrauit, recta cubiculum uxoris petens,
in quo dormire mater natum iusserat,
aetatem adultam seruans diligentius.
(9) Dum quaerunt lumen, dum concursant familia,
irae furentis impetum non sustinens
ad lectum uadit, temptat in tenebris caput.
(10) Ut sentit tonsum, gladio pectus transigit,
nihil respiciens dum dolorem uindicet.
(11) Lucerna adlata, simul adspexit filium
sanctamque uxorem dormientem (illum prope),
sopita primo quae nil somno senserat,
representauit in se poenam facinoris
et ferro incubuit quod credulitas strinxerat.
(12) Accusatores postularunt mulierem,
Romamque pertraxerunt ad centumuiros.
(13) Maligna insontem deprimit suspicio,
quod bona possideat.

(14) Stant patroni fortiter
causam tuentes innocentis feminae.
(15) A diuo Augusto tum petiere iudices
ut adiuuaret iuris iurandi fidem,
quod ipsos error implicuisset criminis.
(16) Qui postquam tenebras dispulit calumniae
certumque fontem ueritatis repperit,
"Luat" inquit "poenas causa libertus mali;
namque orbam nato simul et priuatam uiro
miserandam potius quam damnandam existimo.
(17) Quod si delata perscrutatus crimina
paterfamilias esset, si mendacium
subtiliter limasset, a radicibus
non euertisset scelere funesto domum."
(18) Nil spernat auris, nec tamen credat statim,
quandoquidem et illi peccant quos minime putes,
et qui non peccant impugnantur fraudibus.
(19) Hoc admonere simplices etiam potest,
opinione alterius ne quid ponderent.
(20) Ambitio namque dissidens mortalium
aut gratiae subscribit aut odio suo.
(21) Erit ille notus quem per te cognoueris.
(22) Haec exsecutus sum propterea pluribus,
breuitate nimia quoniam quosdam offendimus.

Deutsch

Der Dichter über glauben und nicht glauben 
(1) Es ist gefährlich, zu glauben und nicht zu glauben.

(2) Für beide Situationen werde ich kurz ein Beispiel bringen.

(3) Hippolytus ist gestorben, weil seiner Stiefmutter geglaubt worden ist;

weil der Cassandra nicht geglaubt worden ist, ging Troja unter.

(4) Also muss man deutlich nach der Wahrheit forschen, bevor eine verkehrte Meinung auf törichte Weise ein Urteil fällt.

(5) Aber ich werde, um nicht das mythenreiche Altertum herabzusetzen, dir erzählen, was zu meiner Zeit geschehen ist.

(6) Als ein Mann seine Frau liebte und für seinen Sohn schon die reine Toga vorbereitete, wurde er von seinem Freigelassenen, der hoffte, dass er der nächste Erbe sein werde, heimlich beiseite geführt.

(7)  Als dieser Vieles über den Jungen erlogen hatte und noch mehr über die Schandtaten der züchtigen Ehefrau, fügte er hinzu, weil er spürte, dass dies den Liebenden besonders wehtun werde, oft komme ein Liebhaber vorbei, und der gute Ruf des Hauses werde durch schimpflichen Ehebruch beschmutzt.

(8) Jener war über die falsche Anschuldigung seiner Frau aufgebracht, täuschte eine Reise zu seinem Landhaus vor und blieb heimlich in der Stadt; dann trat er nachts heimlich durch den Hauseingang und erstrebte geradewegs das Schlafgemach seiner Frau, in dem die Mutter ihren Sohn zu schlafen befohlen hatte, weil sie den Heranwachsenden sorgsamer überwachen wollte.

(9) Während Licht gesucht wird und die Hausgemeinschaft hin und herläuft, geht der Mann, den Ansturm rasender Wut nicht ertragend, zum Bett und sucht in der Dunkelheit nach einem Kopf.

(10) Als er den geschorenen Kopf spürt, durchbohrt er die Brust mit dem Schwert und beachtet nichts, während er seinen Schmerz rächt. (11) Nachdem eine Laterne gebracht worden war, sah er zugleich seinen Sohn und seine züchtige Frau (neben jenem) schlafen, welche, vom ersten Schlaf betäubt, nichts gemerkt hatte; er führte sofort die Strafe für das Verbrechen gegen sich selbst aus und stürzte sich in das Schwert, welches seine Leichtgläubigkeit gezückt hatte.

(12) Ankläger klagten die Frau an und schleppten sie nach Rom vor die Hintermänner.

(13) Der böswillige Verdacht drückte die Unschuldige nieder, weil sie die Güter im Besitz hat.

(14) Ihre Anwälte stehen tapfer da und verteidigen die Sache der unschuldigen Frau.

(15) Darauf erbaten die Richter vom göttlichen Augustus, dass er ihnen bei der Gewissenhaftigkeit ihres Eides unterstützen möge, weil die Ungewissheit des Verbrechens sie selbst verwirrt hätte.

(16) Nachdem dieser das Dunkel der falschen Anklage zerstreut und den sicheren Ursprung der Wahrheit gefunden hatte, sagte er: „Der Freigelassene soll als Grund des Unheils büßen; denn ich glaube, dass man die Frau, die ihres Sohnes und zugleich ihres Mannes beraubt worden ist, eher bemitleiden als verurteilen müsse.

(17) Wenn aber der Familienvater das ihm mitgeteilte Vergehen erforscht hätte, wenn er die Lüge gründlich untersucht hätte, dann hätte er nicht sein Haus durch ein tödliches Verbrechen gänzlich vernichtet."

(18) Das Ohr soll nichts verachten, doch auch nicht sofort glauben, da eben auch jene sündigen, von denen man es keineswegs glauben mag, und diejenigen, die nicht sündigen, werden durch Täuschungen angegriffen.

(19) Dies kann auch schlichtere Menschen warnen, dass sie nicht etwas nach der Meinung eines anderen beurteilen.

(20) Denn der Ehrgeiz der Menschen unterscheidet sich und pflichtet entweder der eigenen Vorliebe bei oder der eigenen Abneigung.

(21) Bekannt sein wird dir jener, den du durch dich kennen gelernt hast.

(22) Dies habe ich deswegen mit mehr Wörtern erzählt, weil ich bei gewissen Menschen durch allzu große Kürze Unwillen erregt habe.