Phaedrus 2,8

Latein

Cervus ad Boves

(1) Cervus nemorosis excitatus latibulis,
ut venatorum effugeret instantem necem,
caeco timore proximam villam petit,
ut opportuno se bovili condidit.
(2) Hic bos latenti "Quid nam voluisti tibi,
infelix, ultro qui ad necem cucurreris?"
(3) At ille supplex "Vos modo" inquit "parcite:
occasione rursus erumpam data".
(4) Spatium diei noctis excipiunt vices;
frondem bubulcus adfert, nil adeo videt:
(5) eunt subinde et redeunt omnes rustici,
nemo animadvertit: transit etiam vilicus,
nec ille quicquam sentit.

(6) Tum gaudens ferus bubus quietis agere coepit gratias,
hospitium adverso quod praestiterint tempore.
(7) Respondit unus "Salvum te cupimus quidem,
sed, ille qui oculos centum habet si venerit,
magno in periclo vita vertetur tua".
(8) Haec inter ipse dominus a cena redit;
et, quia corruptos viderat nuper boves,
accedit ad praesaepe:

(9) "Cur frondis parum est? stramenta desunt.

(10) Tollere haec aranea quantum est laboris?"

(11) Dum scrutatur singula, cervi quoque alta conspicatur cornua; quem convocata iubet occidi familia, praedamque tollit.

(12) Haec significat fabula dominum videre plurimum in rebus suis.

Deutsch

Der Hirsch bei den Rindern

(1) Ein Hirsch wurde aus seinem bewaldeten Versteck aufgescheucht, um dem drohenden Mord der Jäger zu entfliehen, und eilt in blinder Angst zum nächsten Landhaus, um sich im günstig gelegenen Rinderstall zu verstecken.

(2) Hier sprach ein Rind zu dem sich Versteckenden: "Was willst du denn für dich, Unglücklicher, der du freiwillig in deinen Tod läufst?"

(3) Aber jener sagte bittend: „Schont ihr mich nur: Bei einer gegebenen Gelegenheit werde ich wieder fliehen."

(4) Die Tageszeit wechselt sich mit den Nächten ab; der Knecht bringt Laub heran, ihn (den Hirsch) sieht er nicht:

(5) Von Zeit zu Zeit kommen alle Bauern und gehen wieder, keiner bemerkt etwas: Sogar der Verwalter kommt vorbei, und jener bemerkt auch nichts.

(6) Darauf begann der sich freuende Hirsch sich bei den Rindern, die sich ruhig verhalten haben, zu bedanken, dass sie ihm in schwerer Zeit Gastfreundschaft gewährt haben.

(7) Eines antwortet: "Gewiss wünschen wir, dass du wohlbehalten bist, aber wenn jener kommt, der 100 Augen hat, befindet sich dein Leben in großer Gefahr."

(8) Währenddessen kam der Hausherr selbst vom Essen zurück; und weil er gesehen hatte, dass die Rinder vernachlässigt waren, trat er an die Krippe:

(9) "Warum ist hier zu wenig Laub? Stroh fehlt.

(10) Wie viel Arbeit kann es sein, diese Spinngewebe zu entfernen?"

(11) Während er einzelne Sachen untersucht, erblickt er auch die hohen Hörner des Hirsches; er ruft das Gesinde zusammen und befiehlt, dass dieser getötet wird, und lässt die Beute entfernen.

(12) Diese Fabel gibt zu erkennen, dass der Hausherr in seinen Sachen am meisten sieht.