Nyctimene

Latein

(1) quid tamen hoc prodest, si diro facta volucris

crimine Nyctimene nostro successit honori?               590
(2) an quae per totam res est notissima Lesbon,
non audita tibi est, patrium temerasse cubile
Nyctimenen?

(3) avis illa quidem, sed conscia culpae
conspectum lucemque fugit tenebrisque pudorem
celat et a cunctis expellitur aethere toto.“                595
    

(4) Talia dicenti „tibi“ ait „revocamina“ corvus
„sint, precor, ista malo: nos vanum spernimus omen.“
(5) nec coeptum dimittit iter dominoque iacentem
cum iuvene Haemonio vidisse Coronida narrat.
(6) laurea delapsa est audito crimine amantis,               600
et pariter vultusque deo plectrumque colorque
excidit, utque animus tumida fervebat ab ira,
arma adsueta capit flexumque a cornibus arcum
tendit et illa suo totiens cum pectore iuncta
indevitato traiecit pectora telo.                                605
(7) icta dedit gemitum tractoque a corpore ferro
candida puniceo perfudit membra cruore
et dixit: „potui poenas tibi, Phoebe, dedisse,
sed peperisse prius; duo nunc moriemur in una.“
(8) hactenus, et pariter vitam cum sanguine fudit;               610
corpus inane animae frigus letale secutum est.
    

(9) Paenitet heu!

(10) sero poenae crudelis amantem,
seque, quod audierit, quod sic exarserit, odit;
odit avem, per quam crimen causamque dolendi
scire coactus erat, nec non arcumque manumque               615
odit cumque manu temeraria tela sagittas
conlapsamque fovet seraque ope vincere fata
nititur et medicas exercet inaniter artes.
(11) quae postquam frustra temptata rogumque parari
vidit et arsuros supremis ignibus artus,               620
tum vero gemitus (neque enim caelestia tingui
ora licet lacrimis) alto de corde petitos
edidit, haud aliter quam cum spectante iuvenca
lactentis vituli dextra libratus ab aure
tempora discussit claro cava malleus ictu.                625
(12) ut tamen ingratos in pectora fudit odores
et dedit amplexus iniustaque iusta peregit,
non tulit in cineres labi sua Phoebus eosdem
semina, sed natum flammis uteroque parentis
eripuit geminique tulit Chironis in antrum,               630
sperantemque sibi non falsae praemia linguae
inter aves albas vetuit consistere corvum.

Deutsch

(1) Was aber nützt dies, wenn aufgrund eines grässlichen Verbrechens die zum Vogel gemachte Nyctimene meinen Ehrenplatz einnahm?

(2) Ist diese Sache auf ganz Lesbos etwa nicht die bekannteste, die von dir gehört worden ist, dass Nyctimene das Bett ihres Vaters geschändet habe?

(3) Jener Vogel freilich floh aber, sich der Schuld bewusst, vor dem Anblick und dem Licht und verhüllt ihren Scham in Dunkelheit und wird von allen aus dem ganzen Äther vertrieben.“

(4) Während sie solches spricht, sagt er: „Diese Rückrufe mögen dir, Krähe, so bitte ich, Unheil bringen: Ich verachte dieses nichtige Vorzeichen.“

(5) Und er lässt nicht vom begonnen Thema ab und erzählt seinem Herrn, dass er Coronis mit einem haemonischen Jüngling schlafen gesehen habe.

(6) Als er von dem Vergehen hörte, ist der Lorbeerkranz des Liebenden heruntergefallen, und zugleich verlor der Gott seinen Gesichtsausdruck, das Plektrum und die Gesichtsfarbe; sobald sein Gemüt vor anschwellendem Zorn erglühte, ergreift er die gewohnten Waffen, spannt den an den Enden gebogenen Bogen und durchbohrte mit dem unentrinnbaren Pfeil jene Brust, die so häufig an seine Brust geschmiegt war.

(7) Getroffen, gab sie einen Seufzer von sich, und nachdem sie das Eisen aus der Wunde gezogen hatte, beschmierte sie so die weißen Glieder mit rotem Blut und sie sagte: „Ich hätte von dir, Phoebus, bestraft werden können, aber zuerst hätte ich gebären können; nun werden wir zu zweit in einer einzigen sterben.“

(8) Sie sagte es und ließ zugleich mit dem Blut ihr Leben ausströmen; dem seelenlosen Körper folgte tödliche Kälte.

(9) Ach, zu spät!

(10) Reut dem Liebenden die grausame Strafe, und er hasst sich, weil er zugehört hat und weil er so vor Zorn entbrannt ist; er hasst den Vogel, durch den er gezwungen worden war das Vergehen und den Grund seines Schmerzes zu erfahren, und er hasst auch den Bogen, seine Hand und mit der Hand die unüberlegten Geschosse, die Pfeile; er wärmt die Zusammengesunkene, bemüht sich durch zu späte Hilfe das Schicksal zu besiegen und wendet erfolglos seine Heilkünste an.

(11) Nachdem er bemerkt hatte, dass dies vergeblich versucht worden war, dass der Scheiterhaufen vorbereitet wurde und dass die Glieder im letzten Feuer verbrennen sollten, da stieß er aber tief aus dem Herzen hervorgeholte Seufzer aus, denn es ist nicht erlaubt, das ein göttliches Gesicht mit Tränen benetzt wird, nicht anders, als wenn unter den Blicken der Kuh der vom rechten Ohr geschwungene Hammer mit lautem Schlag die gewölbte Schläfe des saugenden Kälbchens zerschlagen hat.

(12) Sobald er dennoch den nichts nützenden Balsam auf ihre Brust gegossen hatte, sie umarmt hatte und ihr die rechten Ehren erwiesen hatte, die ungerecht waren, ertrug Phoebus es nicht, dass sein Samen zu derselben Asche zerfalle, sondern er entriss den Sohn den Flammen und dem Bauch der Mutter und brachte ihn in die Höhle des zweigestaltigen Chirons, und er verbot dem Raben, der von ihm für seine nicht falsche Botschaft Belohnungen erhoffte, sich unter den weißen Vögeln aufzuhalten.